Mittwoch, 12. Oktober 2011

Nicht Deutschland, sondern das Unrecht als Feind

Quelle: Suhrkamp
Französische Widerstandskämpfer und solche, die man dafür hält, stehen zusammengepfercht in einem Viehwaggon. Sie stehen Leib an Leib, richten sich nur Nischen und Lichtungen ein, wenn jemand seine Notdurft in den bereitgestellten Eimer scheißen will. Es dampft in der Enge, es stinkt, man hört Stimmegewirr und der Erzähler, er unterhält sich mit einem jungen Mann, der die Fahrt ins Ungewisse - sie geht nach Buchenwald - nicht überleben wird. Derweil der Erzähler in seine Vergangenheit und in tiefe Gedanken entführt, wird im Waggon gestorben - in Raten, manchmal aber auch cash.

Das ist "Die große Reise" Jorge Semprúns, die er 1963 veröffentlichte, die im deutschen Sprachraum allerdings nicht allzu große Beachtung fand. Eine real-fiktive Geschichte, die streng nicht-chronologisch gegliedert das Wesen der Gefangenschaft und des Freiheitskampfes behandelt. Semprún erzählt dabei seine Geschichte, seine große Reise ins Konzentrationslager Buchenwald. Er erzählt, wie er, der Kommunist, durch Trier fährt, durch die Geburtsstadt der profanen Gottes, den sich der Kommunismus zu jener Zeit geschaffen hatte. Auch dieses Deutschland gibt es - oder gab es es? Am Bahnhof zu Trier, der Erzähler durch ein kleines Fenster lugend, steht ein kleiner Junge, der die Gefangenen verspottet. Was kann der kleine Hosenscheißer dafür? Was das Deutschland von einst? Es ist das jetzige Deutschland, das große Reisen organisiert, dem er, der hervorragend Deutsch spricht, der Goethe kennt und Marx in deutscher Ausgabe las, den Kampf erklärt hat. Und das jetzige Deutschland, das Deutschland Hitlers ist es, das ihn einsperrt - nicht das Deutschland, das auch Marx hervorbrachte; nicht das Deutschland, in dem der kleine Junge aus Trier später leben wird.

Semprún lehrt in seiner "großen Reise", dass er nicht gegen Deutschland kämpft, wenn er auch momentan gegen Deutschland ins Feld liegt. Nicht gegen Deutschland geht es, kein patriotisches Hurra-Gefühl gegen die Teutonen treibt ihn an, liest man heraus - es ist der Kampf gegen das große Unrecht, das sich ausbreitet. Nach dem KZ wird der Erzähler, der ein literarisch modifizierter Semprún ist, nicht in die Biederkeit des Alltags zurückkehren, um seine Wunden zu lecken - er wird weiterkämpfen, gegen den spanischen Faschismus diesmal, gegen die Unmenschlichkeit, die in seinem Heimatland tobt. Semprún nahm diesen Kampf tatsächlich auf, ging weiterhin in den Untergrund und setzte sich der Gefahr aus, erneut auf eine große Reise geschickt zu werden, würde man je wieder seiner habhaft werden.

"Die große Reise" von Jorge Semprún erschien zunächst im Rowohlt-Verlag, später bei Suhrkamp.


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